Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber seit Monaten bin ich genervt, wenn ich in meinen wirklich heiß geliebten sozialen Netzwerken unterwegs bin. Das hat mit den Algorithmen zu tun, die bestimmen, was ich auf meinen Newsfeeds in Facebook und Co zu sehen bekomme. Aber es hat seit gefühlt einem halben Jahr (na, wahrscheinlich sogar länger) mit dem Tonfall zu tun, in dem viele Posts verfasst sind.
Ich sitze also in der Früh so rum, bin noch nicht ganz wach und froh darüber, dass ich es immerhin schon geschafft habe, mein Kaffeehäferl in Reichweite zu bringen. Dann schau ich mal so, was sich im Netz tut. Das mache ich schon lange so. Quasi Gewohnheit. Seit einiger Zeit passiert dann folgendes: TRUMP IST SCHEISSE! DER INNENMINISTER IST SCHEISSE! DER BAU DES HOCHHAUSES/DER PIPELINE/DES KRAFTWERKS IST SCHEISSE! DIE POLITIK IST SCHEISSE! RADFAHRER SIND SCHEISSE! AUTOFAHRER SIND SCHEISSE! DER EINE FILM IST SCHEISSE! MEIN NACHBAR IST SCHEISSE! DIE GANZE WELT IST SCHEEEEEEISSSSSSEEEEEE!
Und ich reflexhaft so: STIMMT! ALLES SCHEISSE! ALLES VERFICKTE KACKSCHEISSE! DIE GANZE WELT IST SCHEEEEEEISSSSSSEEEEEE!
Aber innerlich bin ich mehr so:
WANN IST MEIN INTERNET EIGENTLICH ZU EINER EMPÖRUNGSMASCHINE MIT KLEMMENDER CAPSLOCKTASTE VERKOMMEN?
Nein, das liegt nicht an meiner „Filterbubble“, davon bin ich ziemlich überzeugt. Denn die Energie, die aus den anderen Bubbles kommt ist ja dieselbe, nur richtet sie sich nicht gegen Trump und den Innenminister, sondern gegen MexikanerInnen, MuslimInnen und Hochhaus-/Pipeline-/KraftwerksgegnerInnen. Naja, so ungefähr – ihr versteht schon, was ich meine. Mir gehts hier um was Grundsätzlicheres, über das ich gerade nachdenke.
Also: Empörung ist eigentlich eine sehr leiwande Energie. Weil sie aktiv ist, genau wie Wut. Sie bringt einen Motor zum Laufen. Sie macht, dass man den Arsch hoch kriegt oder zumindest drüber nachdenkt. Finde ich gut. Sie funktioniert aber nur, weil sie gegen etwas ist. Man empört sich über etwas, das einen stört. Man ist gegen eine Person oder Sache. Man leistet gegen etwas Widerstand. Und das ist mein Punkt: Auf jeden Fall ist es negativ in dem Sinn, dass es mit dem Ankämpfen gegen etwas zu tun hat.
Jetzt habe ich neulich wieder mal einen meiner Lieblingsfilme gesehen, und diese Szene ab Sekunde 35 bringt mich (neben vielen anderen Szenen in diesem Film) immer noch innerlich zum Brennen:
Und plötzlich ist mir klar geworden, wie selten ich das inzwischen habe – dieses positive, enthusiasmierte Brennen für etwas. Dieses starke Gefühl von Euphorie. Diese lebendige Lebensbejahung. Das erstaunliche an diesem Film ist ja, dass er in einem tristen Milieu spielt, und dass da ganz schrecklich deprimierende Sachen vorkommen: Umweltkatastrophen. Ein Staat, der seine Bürger im Stich lässt. Armut. Aggression. Gewalt. Und natürlich Tod. Trotzdem hat mich kaum ein Film oder Buch der letzten Jahre so lebendig und begeistert fürs Leben und die Menschen hinterlassen wie Beasts of the Southern Wild.
Als ich den Film neulich zufällig im Fernsehen erwischt habe, bin ich natürlich wieder hängengeblieben, und eines hat mich nicht mehr losgelassen: Dieser Eindruck, dass der ganzen Empörung, so wichtig sie auch sein mag, kaum eine Euphorie gegenübersteht, die mich mit diesem Gefühl von Lebendigkeit auffüllt. Mich macht Empörung auf Dauer leer und ängstlich. Die Euphorie füllt mich hingegen auf und macht mich stärker. Finde ich interessant. (Hm, geht das eigentlich nur mir so?)
Ok, und was jetzt? Let’s start with baby steps. Ich habe für mich beschlossen, einfach mal mehr auf die Euphorie zu achten. Ich merke nämlich, dass ich irgendwie aus der Übung bin, sie zu sehen. Deswegen fange ich erstmal damit an, sie hier zu sammeln, und zum Einstieg gibts jetzt gleich ein paar Filmmomente.
Das hier ist eine tolle Szene aus Where The Wild Things Are (aber Achtung: In der ganzen Euphorie sollte man nicht wen anderen in den Abgrund schupfen, das wäre eher ungünstig).
Dann kommt hier eine Szene aus dem wunderbaren Film Mein Nachbar Tortoro. Es gibt sie nicht auf Youtube, aber ich beschreibe sie euch einfach: Das kleine neugierige Mädchen Mei entdeckt im Wald beim Spielen den Waldgeist Tortoro. Der ist sehr groß und kann ganz fürchterlich brüllen. Das grandiose an dieser Szene ist aber, dass Mei einfach keine Angst hat, sondern dabei vor lauter Freude auf dem Bauch von Tortoro herumhüpft, als gäbe es nichts schöneres von so einem Monster angebrüllt zu werden. Euphorie hat anscheinend irgendwas mit Mut zu tun. (Am Anfang dieses Trailers sieht man einen Ausschnitt aus dieser Szene.)
Oh, übrigens finde ich es ja schon auch interessant, dass in allen drei Filmen Kinder die Hauptrollen spielen… Ich schließe daraus, dass es nicht schaden kann, ab und zu ein bisschen mehr Kind zu sein, was die Begeisterungsfähigkeit betrifft. Und apropos „begeistern“: Das hat ja bedeutungsmäßig auch viel mit Euphorie im Sinn von „Hochstimmung“ zu tun. Etymologisch heißt es „mit Geist, Inhalt erfüllen, beseelen, beleben“. Passt.
Wenn ihr jetzt auch mehr Euphorie in eurem Leben haben wollt, dann macht es einfach. Nicht, um die Empörung auszuschalten (die brauchen wir auch sehr dringend), sondern einfach, um das Leben um die Begeisterungsfacette zu bereichern. Das leiwande am Internet ist ja, dass man seine Euphorie so leicht teilen kann: Auf Blogs, Facebook, Twitter. Erzählt den Leuten auf Snapchat und in den Instagram Stories von dem, was euch begeistert. Erwähnt das, was euch in gute Laune und Euphorie versetzt, im echten Leben bei Gesprächen mit der Familie und Freunden. Fragt andere, was sie zum Leuchten bringt. Das kann auf keinen Fall schaden. Dann lernen wir uns auch gleich besser kennen.
Also: Was bringt euch zum Brennen, was versetzt euch in Euphorie und reisst euch zu Begeisterungsstürmen hin? Und warum? Wenn ihr wollt, könnt ihr mir gerne hier in den Kommentaren davon erzählen.
Comments 6
Musste ein bisschen grinsen, weil Euphorie wahrscheinlich das capslockigste von allen positiven Gefühlen ist.
Author
Haha, stimmt. ABER DAS EUPHORISCHE CAPSLOCK IST VOLL IN ORDNUNG!11!!!einself!!1!
Was mich zum leuchten bringt, ist eine 68-jährige Dame namens Elisabeth, die mir erklärt, wie man seine Handydaten von einem alten auf sein neues übertragen kann, und mir erzählt, dass sie arbeiten will, weil ihr kochen und putzen zu langweilig ist, dass sie wahrscheinlich keine Enkel haben wird, weil ihr Sohn schwul ist, und dass sie Pensionistenvereine verabscheut, weil dort alle so alt sind. Jetzt wird sie für uns arbeiten und wahrscheinlich unseren Blog betreuen.
Author
Hallo Klaudia, danke für deine Geschichte! Das ist bringt mich auch zum Leuchten – eine tolle Person, die Elisabeth. Und ein gutes Projekt (Start Up?), das ihr da habt.
gut geschrieben !
. . . wenn ich ein Klavierstück spielen kann . . . :-)
Author
Ah, Klavierspielen! Das wollte ich ja auch mal wieder versuchen…